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Gesundheitswesen: Ärztliche Hilfe als Geschäftsmodell?

Dtsch Arztebl; 109(16): A-804 / B-696 / C-692
Maio, Giovanni

Eine Kritik der ökonomischen Überformung der Medizin

Wir leben in einer Zeit, in der die Medizin von Grund auf transformiert wird. Aus einer genuin sozialen Praxis soll die Medizin in einen Gesundheitsmarkt verwandelt werden. Konzepte, die eigentlich nur für die Industrie gedacht waren, werden zunehmend über alle Bereiche der Gesellschaft gestülpt. Längst hat vor allem in den Kliniken ein Denken eingesetzt, das stärker vom Managementdenken als vom medizinischen Denken geprägt ist. Aber worin besteht eigentlich der Unterschied? Wie verändern die ökonomischen Leitkategorien das Denken in der Medizin?

1. Strukturelle Abschaffung der Zuwendung

Die Ökonomie und mit ihr die Bestrebungen der Effizienzsteigerung zwingen unaufhaltsam zur Beschleunigung. Das Diktat des Marktes ist ein Diktat der Zeitökonomie: Alle Abläufe in den Kliniken werden so beschleunigt, dass am Ende das wegrationalisiert wird, worauf es bei der Behandlung von Menschen zentral ankommt – die Zeit für das Gespräch zwischendurch, für das Gespräch, das nicht sein muss, das aber doch zum Wesentlichen einer persönlichen Betreuung gehört. Die persönliche Zuwendung wird immer mehr als idealistisches Sahnehäubchen angesehen, auf das man heutzutage auch verzichten kann, weil es Wesentlicheres gibt, wie etwa die Einhaltung von Qualitätsstandards. Und zu diesen Standards kann die persönliche Zuwendung kaum gezählt werden, weil sich diese kaum messen lässt.

2. Formale Normen statt menschlicher Beziehung

Unter dem politisch verordneten Zeitdiktat verkümmert eine Kultur des Heilens, weil die Behandlung von kranken Menschen immer mehr als messbare Handlung begriffen wird. Das ökonomisierte System suggeriert in problematischer Weise, dass mit der Applikation des Richtigen die Behandlung erschöpft sei. Auf diese Weise gerät der sinnstiftende Dienst am Menschen zu einer personennahen Dienstleistung – nach ökonomisch-verwaltungstechnischen Vorgaben. Damit aber wird genau das unterbewertet, was für viele Menschen der eigentliche Grund war, sich für den Helferberuf Arzt zu entscheiden. Erfüllung für den Arzt und echte Hilfe für den Kranken gibt es nur dann, wenn die ärztlichen Verrichtungen nicht nur auf einer gesunden Wissensbasis stehen, sondern wenn auch eine zweite Basis vorhanden ist, die eine Grundhaltung der Wertschätzung für den Patienten, eine Grundhaltung des authentischen Helfenwollens, eine Grundhaltung der Sorgebeziehung zum Kranken ermöglicht. Solche Werte werden zum lästigen Hindernis, das gelegentlich der Effizienzsteigerung und der Rentabilität im Weg steht.

3. Ökonomische Überformung des Ärztlichen

Selbstverständlich ist das ökonomische Denken in der Medizin sehr wichtig. Ohne ökonomisches Denken würde man zu viele kostbare Ressourcen verschwenden. Aber man muss der Ökonomie ihren Platz zuteilen. Dieser Platz ist dort, wo sie der Medizin hilft, ihre genuin medizinischen Ziele ohne Verschwendung zu erreichen. Die Ökonomie ist also eine Dienerin der Medizin, die durch vernünftiges Wirtschaften die Freiräume ermöglichen soll, in denen Medizin überhaupt erst realisiert werden kann.

Durch die ökonomische Überformung des Ärztlichen wird eine fürsorgliche Praxis zur marktförmigen Dienstleistung transformiert. Fotos: picture alliance

Tatsächlich ist es aber heute so, dass die Ökonomie nicht mehr der Medizin, sondern vielmehr die Medizin der Ökonomie dient. Die Ökonomie macht die Vorgaben und diktiert genau, was sich lohnt und wie zu behandeln ist, damit am Ende die Zahlen stimmen. Wenn aber nicht mehr das Medizinische, sondern das Ökonomische zum Eigentlichen wird, dann verabschieden wir uns auch von bestimmten Werten in der Gesellschaft.

4. Entwertung des Ärztlichen

Im Grunde möchte man im modernen Gesundheitssystem keine wirklichen Ärzte mehr, sondern eher Manager, die gekonnt die vorgegebenen Behandlungspakete zusammenbauen. Man möchte ein System, in dem alle Tätigkeiten organisatorisch zerlegt werden. Auf diese Weise aber kann das Proprium des Ärztlichen, die ganzheitliche Sichtweise des Menschen, die ureigene ärztliche Qualifikation kaum noch richtig zur Geltung kommen. Die Ökonomisierung führt sukzessive zu einer Art Schlüssellochmedizin, weil die Ärzte dafür belohnt werden, dass sie sich allein auf die DRG-Diagnose oder Ausgangsdiagnose und somit auf ein Teilsegment beschränken, ohne je zu beanspruchen, den Menschen als Ganzes zu sehen.

Im Zuge der exzessiven Ökonomisierung scheint die Wertschätzung des Arztberufs abzunehmen. Dies zeigt sich auch an der mit der Ökonomisierung ausgebrochenen Dokumentationswut. Alles muss gemessen werden, alles belegt werden, und vor allen Dingen: Alles wird kontrolliert. Nichts mehr wird als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern für alles muss der Arzt Rechenschaft ablegen; er sieht sich einem ständigen Generalverdacht ausgesetzt. Man traut den Ärzten nicht zu, dass sie von sich aus richtig handeln, sondern sie werden kontrolliert und sollen mit finanziellen Anreizen dazu gebracht werden, das Richtige zu tun. Dieser Homo oeconomicus ist das genaue Gegenteil des Arztes, der bedingungslos und vollkommen selbstverständlich hilft.

5. Deprofessionalisierung der Ärzteschaft

Es gibt kaum mehr fachliche Ermessensspielräume für den Arzt; immer weniger wird der genuin ärztlichen Erfahrung überlassen, stattdessen wird dem Arzt im Detail vorgeschrieben, was er zu tun hat. Dieses Handeln nach Vorgaben, fast schon nach Gebrauchsanweisungen hat eigentlich nichts professionell Ärztliches mehr an sich. Vielmehr ist im Zuge der Ökonomisierung eine politisch gewollte Deprofessionalisierung der Ärzteschaft zu verzeichnen. Je mehr ökonomische Anreize die Ärzte erhalten, desto mehr verlieren sie die Freiheit, sich ausschließlich am Wohl des Patienten zu orientieren – das Fundament für die Ausübung ihrer Profession. Der Arzt wird tagtäglich in einen Rollenkonflikt getrieben, den er nur dann glaubt, bewältigen zu können, wenn er sich von den hehren Idealen seines freien Berufs verabschiedet und sich an den betriebswirtschaftlichen Vorgaben und Sachzwängen orientiert. Dass dies einem Ausverkauf des Ärztlichen und damit einem Ausverkauf der Vertrauenswürdigkeit der Medizin gleichkommt, wird dabei übersehen.

Der Vertrauensverlust in die Medizin wird noch dadurch verstärkt, dass in einem am Wettbewerb orientierten Gesundheitssystem die Werbung immer mehr zu einem probaten Mittel wird. Vollkommen unbeachtet bleibt dabei, dass das Selbstverständnis einer freien Profession im Grunde mit Werbung unvereinbar ist; denn diese suggeriert nichts anderes, als dass es in der Medizin nur noch Konkurrenten gibt und keine professionseigene Ordnung mehr. Durch die Werbung erfährt die Medizin eine Trivialisierung ihrer Ziele. So wird eine Misstrauenskultur geschürt, die am Ende dem Ansehen der Medizin in elementarer Weise schadet.

6. Trivialisierung der ärztlichen Leistungsangebote

Die Übernahme ökonomischer Leitgedanken führt zunehmend zu einer Versachlichung, Verrechtlichung und Entpersonalisierung der Medizin. Erst diese Entpersönlichung macht es überhaupt möglich, dass zwischen Arzt und Patient keine Interaktionen mehr erfolgen, die man als notwendige Hilfeleistungen beschreiben könnte, sondern dass sich sukzessive auch das „Angebot" der Ärzte wandelt. Wenn die ökonomische Logik die zentrale sein soll, dann ist ja nicht mehr einzusehen, warum Ärzte ausschließlich Hilfeleistungen anbieten sollen; es ist viel lukrativer, wenn man die Hilfeleistungen einfach zu Konsumgütern umformt. In einer Medizin, die sich als Markt versteht, verändern sich die Interaktionen, und so entstehen neue „Produkte" und werden angepriesen – Produkte, die nichts mehr mit Heilen und Helfen zu tun haben, sondern nur noch mit Absatzsteigerung. Diese sollen auch gesunde Menschen erreichen, weil dann die Absatzmöglichkeiten größer sind. Die Ökonomisierung führt zur Marginalisierung der medizinischen Indikation und zur Anpreisung von nicht notwendigen Waren auf dem Medizinbasar.

7. Von der Fürsorge zur marktförmigen Dienstleistung

Die schwerwiegendste Folge der ökonomischen Überformung des Ärztlichen ist, dass eine fürsorgliche Praxis zur marktförmigen Dienstleistung transformiert wird. In Zeiten der Ökonomie ist es gleichgültig, ob man als Arzt das innere Bestreben hat zu helfen oder nicht. Heute wird etwas anderes vom Arzt verlangt. Erwartet werden überprüfbare und abgesicherte Lösungen, die Ärzte sind gebunden an Programme und Vorgaben. Es kommt zu einer kompletten Verrechtlichung der ärztlichen Hilfe, die zur Abgabe eines qualitätsgesicherten Produkts transformiert wird. Dies bezeichnet man als „outputorientierte Qualitätssicherung".

Mit dem Output allein ist aber noch keine humane Medizin realisiert. Gerade die Konfrontation mit einer ernsthaften Erkrankung führt den Menschen an Grenzerfahrungen heran, und viele Patienten benötigen in ihrer existenziellen Grunderfahrung keinen Leistungserbringer, sondern eine Persönlichkeit, bei der sie sich menschlich aufgehoben fühlen. Die Orientierung am guten, am messbaren Outcome ist eine notwendige Bedingung für eine gute Medizin, aber sie ist eben nicht hinreichend. Denn die Begegnung von Arzt und Patient bleibt unweigerlich auf ein Vertrauenkönnen angewiesen, weil es hier oft um existenzielle Erfahrungen geht, die mehr erfordern.

In einem ökonomisierten System gibt es keine Helfer mehr, sondern Dienstleistungsanbieter, es gibt die Lieferung einer bestellten und vertraglich vereinbarten Gesundheitsware. Die Ökonomie bringt also nichts anderes zuwege als die Ablösung des Vertrauensverhältnisses durch ein Vertragsverhältnis. Das ist das Geschäftsmodell, das stillschweigend eingeführt wurde.

8. Tauschverhältnis statt bedingungsloses Helfen

In einer Medizin, die sich als profitorientiertes Unternehmen versteht, wird eine Tauschlogik eingeführt. Man bietet etwas an und bekommt etwas dafür. Die Tauschlogik aber ist eine ganz andere Logik als die Logik, die eine genuin soziale ärztliche Praxis haben müsste. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob der Patient als ein Tauschpartner gesehen wird, dem etwas angeboten oder gar verkauft wird, oder ob er als hilfsbedürftiger Mensch gesehen wird. Wenn Hilfe zunehmend der Tauschlogik unterworfen wird, dann wird man diese Zug um Zug nicht mehr als Selbstzweck sehen, sondern sie nur noch instrumentell betrachten – als eine Hilfe, die man vornimmt, um gute Zahlen zu bekommen, um nach außen im Benchmarking gut dazustehen oder um dem Geschäftsführer zu gefallen.

Das Grundproblem besteht darin, dass sich die Medizin über dieses ökonomisch eingeführte Denken immer weiter von ihrer Grund-
identität entfernt. Diese besteht in der Zuwendung eines professionellen Helfers zu einem hilfsbedürftigen Menschen. Dieses Helfersein hat unweigerlich etwas mit Geben zu tun – und eben nicht mit dem Tausch. Grundelement der Medizin ist nicht die Gegenseitigkeit, wie dies der Tausch voraussetzt, sondern die einseitige Gabe des Arztes an einen hilfsbedürftigen Menschen. Der Helfer ist bestenfalls ein Mensch, der nicht kalkuliert und aufrechnet, sondern der mit der größten Selbstverständlichkeit einfach gibt. Die Selbstverständlichkeit, die Unerschütterlichkeit, mit der man zu geben bereit sein müsste, diese Fraglosigkeit des Helfens, wird in einem ökonomisch bestimmten Umfeld immer mehr abgeschafft.

9. Unparteilichkeit statt Anteilnahme

Der größte Schaden, den das rein ökonomische Denken anrichtet, ist letzten Endes die emotionale Distanzierung vom Patienten: Es gibt den perfekten Service ohne persönliche Anteilnahme am Schicksal des kranken Menschen. Die Ökonomie führt neue Werte ein; anstelle des empathischen Engagements wird die unparteiische Dienstleistungserbringung gepriesen. Die selbstverständliche Unmittelbarkeit des Gebens gerät zur Hilfe nach Berechnung, zur Hilfe nach Kalkül.

Viele Patienten spüren, dass da möglicherweise etwas nicht zusammenpasst. Sie fragen sich immer häufiger, wenn der Arzt ihnen eine Therapie empfiehlt, ob diese Empfehlung dem Kalkül für die Klinik oder Praxis geschuldet ist. Die Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kalkül ist eine ständige Gefährdung der Grundfesten der Medizin als einer Disziplin der Hilfe, als einer Disziplin der Sorge und damit eine Gefährdung des unabdingbaren Vertrauensverhältnisses.

Medizin muss sich neu entdecken als eine soziale Praxis, die über das Rechnen hinaus auf einer unverzichtbaren Grundhaltung der Wertschätzung für den anderen beruht. Ein guter Arzt wird derjenige sein, bei dem man das Gefühl hat, dass er mit der größten Selbstverständlichkeit das Gute tut, ohne zu berechnen, ohne Vorbehalt. Ein guter Arzt gibt etwas, er gibt seine Zeit, er verschenkt seine Aufmerksamkeit, er verschenkt sein mitmenschliches Interesse. Ein Arzt kann am Ende nur dann gut sein, wenn er signalisiert, dass er im Kontakt mit seinen Patienten noch über eine letzte Ressource verfügt, und das ist ein Rest unverplanter Zeit, die er sich bereitwillig, ohne Schaden zu befürchten, nehmen kann.

10. Unterwerfung unter das Diktat des Erfolgs

Die Politik glaubt, mit der Etablierung ökonomischer Begrifflichkeiten würden viele Probleme gelöst. Sie glaubt, aus Patienten Kunden machen zu können; sie verkauft diesen neuen Kundenstatus mit dem Slogan „Freiheit für den Patienten". Hinter dieser Freiheitssemantik verbirgt sich aber die Tendenz, alle Verantwortung dem Patienten überzustülpen. Der Patient erhält die Verantwortung, sich zu informieren und eine für sich gute Entscheidung zu fällen. Wenn es schiefgeht, fällt das auf den Patienten zurück, weil er sich als mündiger Bürger nicht ausreichend informiert hat. Ein solch euphemistisch verbrämter Umgang mit kranken Menschen ist nichts anderes als eine subtile Form der Entsolidarisierung.

Hinter dem schönen Begriff der Freiheit und der Mündigkeit verbirgt sich ein Rückzug des Sozialen; der neue „mündige" Patient darf auf der einen Seite Ansprüche stellen, ist andererseits aber auch gezwungen, als Patient fortan immer auf der Hut sein und sich abzusichern. Bei ernsthaft erkrankten Patienten, die die Diagnose zunächst in eine Lebenskrise stürzt, kann das Paradigma des gut informierten Kunden nicht funktionieren, weil einem solchen hilfsbedürftigen Patienten nicht zugemutet werden kann, in seiner Not auch noch auf der Hut zu sein.

Wenn der Patient, wie die Politik es so gerne möchte, ein Kunde sein soll, dann hat das zur Folge, dass man diesem Kunden ja nicht primär hilft, sondern ihm zunächst einmal etwas verkauft – ob ihm aber tatsächlich geholfen wird, ist nicht ausgemacht. Das ist die letzte Konsequenz einer komplett ökonomisierten Medizin. Und konsequent ist dann auch: Geholfen wird nicht mehr allen, sondern nur noch dann, wenn es sich lohnt. Die eigentliche Kunst einer ökonomisierten Medizin besteht darin, eine gute Patientenselektion zu erreichen, Patienten zu akquirieren, die eine gute Bilanz versprechen, Patienten, die für eine gute Statistik taugen und denen man womöglich noch Zusatzleistungen anbieten kann.

Diejenigen, die in weniger gut lösbaren Problemlagen stecken, werden als zu risikoreich eingestuft und daher eher gemieden und weiter marginalisiert. Denn wenn eine nennenswerte Verbesserung nicht rasch und komplikationslos erreicht werden kann, dann erscheint jeder Einsatz als ineffizient und für das Unternehmen bedrohlich. Alle Maßnahmen, die nicht garantiert und ohne viel Aufwand erfolgreich sind, werden mehr und mehr ausgeschlossen, einfach weil sie durch das neu etablierte Raster der Rentabilität fallen. Das Kriterium der Rentabilität ersetzt den genuin sozialen Gedanken. Das, was einst unabdingbar war, dass man auch dort zu helfen versucht, wo man wenig Chancen hat, all dieses Unabdingbare wird durch die Ökonomie zur Verschwendung und damit unnötig.

Die Medizin darf ihre ureigene Aufgabe, nämlich Anwalt des Patienten zu sein, nicht der Ökonomie überlassen. Denn wenn die Medizin dem Geschäftsmodell ganz nachgibt, wird sie am Ende keine Medizin mehr sein.

Prof. Dr. med. Giovanni Maio M.A. (phil.)
Lehrstuhl für Medizinethik
Institut für Ethik und Geschichte der Medizin
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

 

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